Das Athen des Nordens: Ein Ort voller Mythen und Magie

Viele düstere Geschichten erzählt man sich über Edinburgh. Auf einem Streifzug durch die dunklen und verborgenen Gassen der schottischen Hauptstadt erfahren wir, wie hier eine ganz neue Geschichte zum Leben erweckt wurde.
Ein literarisch-morbider Ausflug anlässlich eines ganz besonderen Jubiläums.

Hätten wir das Elephant House vor zwanzig Jahren betreten, so wäre es uns wohl nur wie ein ganz normales Café erschienen, ein Café mit einer kruden Vorliebe für große afrikanische Landsäugetiere, die sich in dem unspektakulären Gastraum mit den bunt durcheinandergewürftelten runden und eckigen Tischen, Holzstühlen und Ledersesseln auf Leinwand gebannt oder in Ton gebrannt an jedem freien Fleck drängen. Wir hätten den Blick aus dem Fenster genießen, das Edinburgh Castle auf dem Castle Rock in seiner ganzen düsteren Pracht bewundern und ein dem unscheinbaren Ambiente angemessenes Stück Apfelkuchen mit Kaffee verzehren können. Oder eine Portion Haggis für die Tapferen unter uns. 

Vielleicht hätten wir tatsächlich einen Tisch am Fenster ergattert, vor zwanzig Jahren mag dies noch möglich gewesen sein, und vielleicht wäre uns eine junge Frau an einem der Nachbartische aufgefallen, vor sich eine Tasse mit vor einigen Stunden noch warmem Kaffee und einen wüsten Stapel handbeschriebener Zettel. Ganz in ihr Schreiben vertieft hätte sie nur gelegentlich einmal aufgeschaut, seufzend einen Blick über den Greyfriars Kirkyard hinweg zum Castle geworfen, an ihrem kalten Kaffee genippt, das Gesicht verzogen und sich dann wieder in ihrer eigenen Welt verloren. 

Wahrscheinlich hätten wir sie aber nicht einmal bemerkt. 

Denn schließlich befinden wir uns an einem Ort, der keiner Menschen bedarf, um Aufmerksamkeit zu erwecken, in Dùn Èideann, wo jedem Stein, jeder schmaler Gasse und jedem alten Gemäuer ein ganz eigener magisch-morbider Zauber innewohnt. Der unvorbereitete Besucher, der doch eigentlich nur den Bus vom Edinburgh Airport auf der lebhaften Princes Street verlassen hat, wird von diesem Zauber spätestens dann ergriffen, wenn er die betriebsame Einkaufsstraße, das Tor zur georgianischen New Town, und die Scottish National Gallery zu seiner Linken hinter sich lässt und über die George IV Bridge in das alte, mystische Herz der Stadt eindringt. Wendet man sich kurz vor der Brücke nach rechts und nimmt eine Abkürzung durch eine steile, verwinkelte Gasse, die Victoria Street, gelangt man direkten Weges auf den Grassmarket. Dieser Marktplatz zeugt noch heute von seiner düsteren Vergangenheit als ehemalige öffentliche Hinrichtungsstätte. Wen es nach einem erfrischenden Bier oder einem kräftigen Whisky verlangt, der wird im für sich sprechenden Last Drop oder Maggie Dickson’s gut bedient, und vielleicht ganz nebenbei die absonderliche Geschichte der jungen Frau aufschnappen, die vor fast dreihundert Jahren für den Mord an ihrem Neugeborenen auf dem Grassmarket gehenkt und für tot erklärt wurde, bis Klopfgeräusche aus ihrem Sarg drangen und die Verurteilte sich als quicklebendig erwies. Der halb erhängten Maggie wurde nach ihrer rechtmäßig verbüßten Todesstrafe nicht nur ein langes Leben beschert, sondern bis heute als Namensgeberin des besagten Pubs gedacht. 

Eine Stärkung in einer der zahlreichen Gaststätten auf dem Grassmarket am Fuße des Castle Rocks, mit einem Ausblick, der schon viele Künstler begeistert und Poeten wie Robert Burns und William Wordsworth inspiriert haben soll, ist durchaus angebracht, denn der Höhepunkt unseres Streifzugs durch die düstere Vergangenheit Edinburghs steht noch bevor. Wir verbringen den Rest des Tages im Trubel des Grassmarkets, und als die Nacht hereinbricht, brechen wir auf. Unser Ziel ist nicht weit entfernt. Am westlichen Ende des Marktplatzes führt noch eine zweite enge Straße zur George IV Bridge hinauf, die Candlemaker Row. Wir folgen ihrem steilen Verlauf und biegen hinter einem weiteren Pub nach rechts ab, tauchen ein in die stille Finsternis des Greyfriars Kirkyard. 

Unser Führer Duncan wartet ein Stück weiter vor den Toren der Greyfriars Kirk auf uns. Wir scheinen die letzten fehlenden Teilnehmer der Geisterführung zu sein, ein Ausflug, der uns noch tiefer in die dunklen Geheimnisse dieser bei Tageslicht so zauberhaften Stadt eintauchen lassen wird. Wortkarg gebietet Duncan, ihm zu folgen, hier und da stehenbleibend weiht er uns in die grausamen Geschehnisse ein, die sich einst auf diesem franziskanischen Friedhof zugetragen haben. Grässliche Geschichten ranken sich um den Mackenzie Poltergeist, den Geist des Verstorbenen George Mackenzie, der im Jahr 1679 über 1.200 Mitglieder der rebellischen presbyterianischen Covenanters auf einem Feld südlich des Kirchhofs elendig verhungern oder gar exekutieren ließ. Seit in den späten Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts ein Obdachloser den Sarkophag des „Blutigen Mackenzies“ aufgebrochen und als Nachtlager genutzt hat, so wird es erzählt, geht der Mackenzie Poltergeist auf dem Greyfriars Kirkyard um, bereit, all jenen zu schaden, die seine Ruhe stören. Und tatsächlich berichteten einige nächtliche Friedhofsbesucher von unerklärlichen Verletzungen, die sie nach ihrer Rückkehr an ihren Körpern entdeckten, und im zwischenzeitig abgesperrten Bereich des „Covenant Prisons“ wird immer wieder von geisterhaften Erscheinungen, Stimmen und einem plötzlichen Gefühl des Unbehagens berichtet – das auch uns ergreift, während es mittlerweile so dunkel geworden ist, dass die in Stein geschlagenen Knochen, Totenköpfe und Skelette auf den Mausoleen und Grabsteinen nur noch schemenhaft zu erkennen sind. Wir gehen weiter. 

Während Duncan plötzlich und scheinbar zufällig stehenbleibt, um die weiteren Stationen unseres unheimlichen Ausflugs zu erläutern, lassen wir unsere Blicke wandern. Rechter Hand eine Reihe Gräber, in der Dämmerung kaum zu erkennen, linker Hand eine solide Mauer mit eingelassenen Gedenktafeln. Duncan lässt den Schein seiner Taschenlampe über die verwitterten Namen wandern. Die Ruhestätte, neben der wir unsere kleine Rast einlegen, gehört der Familie eines Thomas Riddell Senior und seinem Sohn, Thomas Riddell Junior. Die Namen kommen uns vage bekannt vor, doch wir haben keine Zeit, uns weiter Gedanken zu machen, denn Duncan treibt uns voran, wieder zurück in das Herz der Old Town, wo noch unzählige finstere Geschichten, schmale, unterirdische Geheimgänge, Mörder, Henker, Geister und andere finstere Gestalten auf uns warten, bevor wir uns dann im Morgengrauen zurück am Tor des Greyfriars Kirkyard verabschieden.

Auch den ausgiebigst flanierenden Friedhofstouristen verlangt es irgendwann zwangsweise nach einer mehr als nur geistigen Stärkung. Nur ein kurzer, steiler Anstieg trennt zwei Welten voneinander. Wir verlassen die beklemmende und doch eigenartig beruhigende Abgeschiedenheit des Greyfriars Kirkyard, nur um uns gleich Auge in Auge mit seinem haarigen Maskottchen zu finden, selbstverständlich nicht dem echten, dem 1872 verblichenen Skye Terrier Bobby, der vierzehn Jahre auf dem Grab seines Besitzers gewacht haben soll, sondern seiner lebensgroßen Nachbildung, die auch heute noch wacht, nicht mehr auf dem Grab, sondern vor dem nach ihm benannten Pub, dort, wo die steile Candlemaker Row wieder auf die belebte George IV Bridge trifft. Da der Trinkwasserbrunnen, auf dem Greyfriars Bobby thront, leider kein Trinkwasser spendet, kommen wir nicht umhin, uns irgendwo zu verköstigen. Eine rote Häuserfassade sticht inmitten all der graubraunen Steinbauten ins Auge. Es ist ein Café, hellerleuchtet, gut besucht und freundlich. 

Wir betreten das Elephant House und müssen erst einmal mit knurrendem Magen und ausgetrockneter Zunge in der Schlange anstehen, bevor uns eine zuvorkommende Bedienung eine Wartezeit von einer halben Stunde in Aussicht stellt. Wir könnten uns einen anderen Ort für unser Frühstück suchen, aber irgendetwas muss dieses kleine Café doch an sich haben, also entschließen wir uns, zu warten. Ein Tisch wird uns zugewiesen, in der Raummitte, trotzdem wird unser Blick auf den Castle Rock kaum eingeschränkt. Wir bestellen Kaffee, Rühreier und Pancakes, und als uns unser Essen gebracht wird, rät uns die Bedienung freundlich lächelnd, doch die Toilette aufzusuchen. Eine seltsame Äußerung für eine Bedienung, aber da unser Streifzug durch die Stadt noch eine Weile andauern soll, folgen wir dem Rat und suchen die Waschräume des Elephant House auf.

Auf den ersten Blick scheint es, als würden diese Toilettenräume nicht zu dem ordentlichen, in Orange- und Holztönen gehaltenen Café gehören, in dem wir uns doch eigentlich befinden. Jeder Quadratzentimeter Wand ist beschmiert, vollgekritzelt, mit eiligen Zeichnungen und Sprüchen versehen, die einer durchschnittlichen Schultoilette alle Ehre gemacht hätten. Auf den zweiten Blick aber, liest man nur die auffälligsten dieser Widmungen, wird deutlich, dass hier nicht etwa frustrierte Schüler oder schmutzige Vandalen am Werk waren. Jede einzelne Notiz ist an eine junge Schriftstellerin gerichtet, die vor zwanzig Jahren im Elephant House saß, hinaus auf den Castle Rock schaute und an den ersten drei Bänden ihrer Romanreihe schrieb, die eine ganze Generation zum Lesen brachte und die frühen Jahre unzähliger Kinder der Neunziger maßgeblich prägte. Aus jeder dieser kurzen Toilettenwandbotschaften spricht Bewunderung, gar Verehrung, oder einfach nur aufrichtiger Dank und die Liebe zu den Abenteuern des jungen Zauberlehrlings Harry Potter und seinem Kampf gegen den schwarzen Magier Lord Voldemort, dessen bürgerlichem Namen wir erst vor ein paar Stunden begegnet sind – auf einem Friedhof, dem Schauplatz, den Joanne K. Rowling auswählte, um Harrys Todfeind im vierten Band der Heptalogie mithilfe eines blutigen Rituals wieder an die Macht zu bringen.

Selbst wer es in den letzten zwanzig Jahren seit der Veröffentlichung der englischen Erstausgabe von Harry Potter und der Stein der Weisen am 26. Juni 1997 nicht geschafft hat, einen der Romane zu lesen, wird nach der Lektüre einiger Zitate auf diesen Toilettenwänden Joanne K. Rowlings Werk nur schwerlich weiterhin für einen reinen Glücksgriff der anspruchslosen Jugendliteratur halten können. Es fällt nicht leicht, sich von den unzähligen Zitaten und Dankesschreiben loszureißen, aber den körperlichen Bedürfnissen unserer Mitmenschen gibt es leider nichts entgegenzusetzen, und als es ungeduldig an der Kabinentür klopft, werfen wir noch einen letzten faszinierten Blick auf die Toilettenwände. Unser Kaffee ist inzwischen kalt geworden. Wir verlassen das Elephant House, den selbsternannten „Birthplace of Harry Potter“, und begeben uns wieder auf unsere Entdeckungstour durch die Old Town von Edinburgh, Dùn Èideann, nur zwei der vielen Namen, die diese magische Stadt trägt, ohne deren dunkle Vergangenheit, morbide Mythen und zauberhaftes Flair es eine der bedeutendsten und erfolgreichsten phantastischen Geschichten unserer Zeit wohl niemals in die Buchhandlungen, ja, überhaupt aufs Papier geschafft hätte.

„Das Beängstigendste, was ich je geschrieben habe“ 

Noch in den frühen Neunzigerjahren deutete jedoch nichts darauf hin, dass die junge alleinerziehende Mutter Joanne Rowling eines Tages Autorin einer internationalen Bestsellerserie werden würde. Nach einer kurzen Zeit als Lehrerin an einer englischsprachigen Schule in Porto, einer gescheiterten Ehe und der Geburt ihrer Tochter, zog Joanne Rowling im Jahr 1993 nach Edinburgh, lebte die ersten Monate in einer kleinen Sozialwohnung, ein düsteres Treppenhaus, beim Blick aus dem Fenster graubraune Steinhäuser, dicht an dicht. 

„Die Erinnerung an diese Zeit hat die Dementoren hervorgebracht. Sie sind die personifizierte Depression, und ich war damals ziemlich deprimiert. Ich denke immer noch, dass sie das Beängstigendste sind, was ich je geschrieben habe. Depressionen sind etwas sehr Beängstigendes. Ich war zwar nie schwer deprimiert, denn ein unter ernsthaften Depressionen leidender Mensch könnte nicht schreiben ... allerdings hatte ich gelegentlich nicht mehr die Energie zu schreiben und das trat stets dann ein, wenn ich in einer wirklich dunklen Stimmung war“, so J. K. Rowling im Jahr 2001 in der BBC-Dokumentation „Harry Potter und Ich“. [1]

Die Dementoren, dunkle magische Wesen, die sich an den Gefühlen der Menschen nähren. Lautlos, in schwarze Umhänge gehüllt und nur gelegentlich ihre schleimigen, toten Hände und den rasselnd atmenden Schlund zeigend, fallen sie über ihr Opfer her, entziehen ihm alle glücklichen Gefühle und zwingen es, seine schlimmsten Erinnerungen wieder und wieder zu durchleben. Ihre grausamste Waffe, der „Kuss des Dementors“, saugt dem Opfer schließlich die Seele aus und lässt es als leeren Körper ohne Erinnerungen und Gefühle zurück. Obgleich unsichtbar für Muggel, die nichtmagischen Menschen in Rowlings Zauberwelt, können selbst diese die Anwesenheit der Dementoren spüren, die sich durch einen kalten und unbarmherzig Beklommenheit hervorrufenden Nebel ankündigen.

Wer einmal einen verregneten und kalten Herbsttag in Edinburgh verbracht hat, könnte durchaus auf den Gedanken kommen, dass die Dementoren keine Erfindung einer begabten aber zutiefst verzweifelten jungen Autorin sind. Von einem auf den anderen Tag verschwindet die strahlende Oktobersonne, die den braunen Steinbauten Edinburghs einen warmen, goldenen Glanz verleiht, hinter schweren Regenwolken und die urigen gepflasterten Straßen unter Pfützen und kleinen Sturzbächen, während sich die ehemals goldbraunen Häuser in einen nassen, dunkelgrauen Umhang hüllen und an Zeiten erinnern, in denen Edinburgh noch nicht als das „Athen des Nordens“ bekannt, sondern aufgrund seiner unzähligen Schlote und verrußter Fassaden als „Auld Reekie“, die „Alte Verräucherte“, in aller Munde war. Und dieser kalte Wind, der gnadenlos vom Firth of Forth durch die Gassen pfeift, die Nebelschwaden, die sich plötzlich über die Old Town legen und das Castle ohne Vorwarnung verschwinden lassen – sind sie wirklich nur eine Laune der Natur, oder doch Begleiterscheinungen dieser unsichtbaren, Elend verbreitenden schwarzmagischen Geschöpfe? 

Joanne Rowlings frühe Jahre in Edinburgh haben ihre Harry-Potter-Reihe maßgeblich geprägt. Weit mehr als nur die unheimlichen Dementoren, die Manifestation ihrer Depressionen, wurde hier aus der Taufe gehoben, bevor sich der kleine, bis dahin noch vergleichsweise unbekannte Bloomsbury-Verlag des ersten Bandes annahm und J. K. Rowling innerhalb weniger Monate zu weltweitem Ruhm verhalf. Mit Veröffentlichung der Folgebände von Harry Potter und der Stein der Weisen wurde Rowling zu einer der meistverkauften Autorinnen aller Zeiten. 

Vieles ist mittlerweile über die Autorin bekannt, die sich in den Neunzigerjahren noch hinter einem Pseudonym verbarg, um der Zielgruppe ihrer Bücher nicht direkt zu offenbaren, dass ihre neuen Lieblingsbücher von einer Frau geschrieben wurden. Als Mittelinitiale wählte Rowling das K, für Kathleen, den Vornamen ihrer Großmutter. Wir wissen, dass Joanne Rowling schon als Kind Schriftstellerin werden wollte. Dass sie die intelligente Romanfigur Hermine Granger an ihr eigenes elfjähriges Selbst erinnert. Dass Rowlings Eltern sich in einem Zug kennenlernten, der vom Bahnhof King’s Cross abfuhr und Rowling die Idee zu Harry Potter in einem verspäteten Zug von Manchester nach London kam. Wir wissen auch, dass einige vielzitierte Fakten über J. K. Rowling selbst der Sagen- und Mythenwelt entstammen, so das Gerücht, sie hätte sich in ihrer Zeit in Edinburgh weder Heizung noch Papier leisten können, und daher auf den Servietten der Cafés geschrieben, in denen sie sich so gern aufhielt. 

Was aber können wir noch über den Ort herausfinden, der so prägenden Einfluss auf die Entstehungsgeschichte der berühmtesten Kinderbuchreihe aller Zeiten hatte? 

Düsternis und Magie 

Nur knappe fünf Minuten Fußmarsch entfernt vom Elephant House liegt der Hauptcampus der University of Edinburgh, der George Square, mit seinen sich dicht an dicht duckenden georgianischen Häusern auf der einen, der modernen Universitätsbibliothek und den imposanten Neubauten des David Hume Towers und des Appleton Towers auf der anderen Seite. Bevor man den Hauptcampus erreicht, gilt es, den Bristo Square mit der prunkvollen McEwan Hall und dem nicht minder beeindruckenden Teviot House zu überqueren, an dessen östlicher Seite die bekannte Potterrow verläuft. Wenn von den ehemaligen viktorianischen Gebäuden in dieser Straße heute auch nichts mehr übrig ist und sie ihre Bekanntheit vor allem der dort ansässigen Studentenvereinigung verdankt, so erinnert zumindest ihr Name an das mittelalterliche Töpferviertel außerhalb der alten Stadtmauern. Und an jemand anderen. Obwohl es verschiedene Theorien über die Inspiration Rowlings für den Namen ihres berühmten Zauberlehrlings gibt, so etwa die Anlehnung an einen Nachbarjungen aus ihrer Kindheit, so fällt es doch nicht schwer, sich vorzustellen, wie die junge Schriftstellerin durch die Potterrow spaziert, leise lächelnd, mit den Gedanken noch ganz bei dem geheimnisvollen Manuskript in ihrer Tasche.

In diesem herrschaftlichen Stadtteil, in dem Altes auf Neues, Tradition auf Moderne trifft, deutet nur wenig auf die dunklen Seiten der schottischen Hauptstadt hin, auf die zwielichtigen Gestalten, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit ihr Unwesen im Schatten der schmalen, steilen Gassen, der „Closes“ trieben, und deren Geschichten bestimmt auch Joanne Rowling nicht verborgen blieben. Vielleicht hat sie auch an einer solch unheimlichen Geisterführung teilgenommen, wie wir unter der Führung von Duncan, der mit uns nicht nur im Dämmerlicht über Friedhöfe streift, sondern uns auch in den verwinkelten Closes der Old Town und den verborgenen Hinterhöfen der Cowgate, des früheren Armenviertels unter der uns bereits bekannten George IV Bridge, mit diebischem Vergnügen von den finsteren Verhältnissen vergangener Tage erzählt. 

Möglicherweise hat Joanne Rowling es aber auch vorgezogen, diese Schauergeschichten selbst zu lesen. Wie auch immer sie davon erfahren haben mag, die grausamen West-Port-Morde, begangen von William Burke und William Hare, werden jedoch kaum an ihr vorbeigegangen sein. Burke und Hare, die aus dem Verkauf der toten Körper ihrer Opfer als Anatomieleichen finanziellen Profit schlugen, und deren Gräueltaten Eingang in Film- und Literaturgeschichte fanden, so etwa in Robert Louis Stevensons Kurzgeschichte Der Leichenräuber. William Burke, der eine nach ihm benannte Art zu Töten entwickelte, die noch heute Anwendung findet, das Burking, Ersticken eines Opfers ohne allzu deutliche Anzeichen eines gewaltsamen Todes. Und obwohl die beiden habgierigen Mörder schließlich gefasst wurden, so möchte man sie doch insgeheim dafür bewundern, ihre Taten so lange geheim gehalten zu haben. Zu töten ohne Spuren zu hinterlassen – der Traum eines jeden Verbrechers. Fast könnte man sagen: ein Hexenwerk. Was für eine fürchterliche Vorstellung, es gäbe einen magischen Fluch, der Menschen tötet, nicht nachzuweisen ist und dem niemand entrinnen kann. Fast niemand.

So faszinierend die morbiden Geschichten und die düsteren Seiten Edinburghs auch erscheinen mögen, darf man doch nicht außer Acht lassen, dass Joanne Rowling in ihren frühen Jahren in Edinburgh keinen Horrorroman verfasste, nicht einmal ein Schauermärchen, sondern dass es sich bei den ersten Bänden der Harry-Potter-Reihe, eindeutig um Kinderbücher handelt, bei denen allen sowohl Kinder als auch Erwachsene faszinierenden, düsteren Elementen zum Trotz die positiven, unterhaltenden Momente überwiegen. Woher nimmt eine an Depressionen leidende Schriftstellerin die Inspiration für solch faszinierende Orte wie das Zauberinternat Hogwarts oder die in London verborgene Winkelgasse, der erste Anlaufpunkt für Zaubereieinkäufe aller Art? Man könnte meinen, das „Athen des Nordens“, sei die perfekte Kulisse für einen Schauerroman, einen blutigen Thriller oder auch einen viktorianischen Krimi. Man denkt an Frankenstein, an Inspector Abberline auf der Jagd nach dem mysteriösen Jack the Ripper oder an Edgar Wallace. Mit all seinen Mördern, Geistern und Spukgeschichten, den erhabenen Bauten und der malerisch-düsteren Lage scheint es in Edinburgh keinen Mangel an Inspiration für Schauergeschichten und melancholische Kunstwerke zu geben. Wie aber schreibt man an einem solchen Ort ein Kinderbuch? Nehmen wir nach den unzähligen unheimlichen Legenden, die wir auf unserem Ausflug durch Edinburgh entdeckt haben, doch etwas Abstand von unserer Suche nach dem Morbiden, Düsteren, und begleiten Joanne Rowling noch ein Stück auf ihrem Weg durch Edinburgh. 

Lässt man den Bristo Square linker Hand liegen und folgt dem Verlauf der Lauriston Place in westlicher Richtung, so kann es gut sein, dass einem auf dem Weg ganze Schülergruppen in Uniform begegnen, Mädchen in MacKenzie-Tartan-Röcken mit Kniestrümpfen, Jungen mit gestreiften Krawatten über weißen Hemden und schwarzen Stoffhosen. Sie alle tragen den blauen Schulblazer der George Heriot’s School, einer Privatschule in bester Lage. Nur der Grassmarket trennt das imposante Sandsteingebäude aus dem Jahr 1628 mit seinen Türmen, Bogengängen und Statuen vom Castle Rock. Die Kinder, die das Glück haben, hier zur Schule zu gehen, werden in vier „Häuser“ aufgeteilt: Lauriston (benannt nach der angrenzenden Straße), Greyfriars (natürlich in Anlehnung an den Greyfriars Kirkyard), Castle (nach dem Edinburgh Castle) und Raeburn (nach dem berühmten Portraitmaler Sir Henry Raeburn). Den vier Häusern sind die Farben Grün, Weiß, Rot und Blau zugeordnet. Vermutlich werden die Schüler der George Heriot’s School nicht von einem sprechenden Hut anhand ihrer Charaktereigenschaften auf die Häuser aufgeteilt, aber es steht außer Frage, welche Schule Pate für J. K. Rowlings Schloss Hogwarts und seine vier Häuser Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin stand.

Gleich neben der George Heriot’s School führt eine schmale Treppe wieder hinunter auf den Grassmarket. Da wir schon genug in morbiden Anekdoten geschwelgt haben, biegen wir uns wieder in die Victoria Street ein, die wir schon am Anfang unseres Besuchs kurz durchquert haben. Nimmt man sich hier ein wenig Zeit, wie es Joanne Rowling Anfang der Neunziger Jahre gewiss nicht nur einmal getan hat, überkommt einen beinahe das Gefühl, von den hohen, engstehenden Steinhäusern erschlagen zu werden – wären da nicht die buntbemalten, einladenden kleinen Läden in den unteren Stockwerken, das Gelächter und Gläserklirren aus den winzigen Pubs auf der Victoria Terrace, einer schmalen Balustrade, die über den ersten drei Stockwerken der farbenfrohen Geschäfte verläuft, und die gelegentlichen schwungvollen Klänge von „Highland Cathedral“, die noch daran erinnern, in welcher Stadt man sich eigentlich befindet. Die Läden in dieser verwinkelten Gasse bieten ein wildes Durcheinander aus gewöhnlichen, außergewöhnlichen und absurd ungewöhnlichen Waren an: von Kleidung, Büchern und Delikatessen über handgezogene Heidekrautduftkerzen bis hin zu deutschen Nussknackern und Weihnachtsschmuck über das ganze Jahr hinweg, und man wird das Gefühl nicht los, dass es irgendwo in einem schummrigen Hinterzimmer auch Pergamentpapier, Schreibfedern und Zauberstäbe zu kaufen gibt. Dass aus irgendeinem Schaufenster heraus plötzlich das laute Kreischen einer Eule dringt, und dass sich vor uns nicht die George IV Bridge, sondern ein Gebäude mit prachtvollen weißen Marmorsäulen erheben wird, unter dem sich, bewacht von Kobolden und Drachen, unzählige Verliese mit Zaubergold befinden. Für einen kurzen Moment vergessen wir, dass wir uns in der Victoria Street befinden, und nicht in der magischen Londoner Winkelgasse. So abgelenkt verlieren wir die junge Schriftstellerin in diesem Moment nun endgültig aus den Augen.

Alles war gut.

Wir beenden unseren Streifzug durch die Old Town Edinburghs dort, wo wir ihn begonnen haben: auf der Princes Street, der Grenze zwischen alt und neu, zwischen gestern und heute, dem Tor zur Vergangenheit. Am westlichen Ende der Princes Street erhebt sich ein Monument, dessen markanter Uhrenturm aus dem Stadtbild Edinburghs nicht wegzudenken ist. Ob vom Castle Rock, dem Arthur’s Seat oder dem Calton Hill, der Glockenturm des viktorianischen Balmoral Hotels ist von vielen zentralen Punkten der Stadt aus zu sehen, und irgendwo unterhalb dieses Turms, in Zimmer Nr. 552, heute bekannt als die „J. K. Rowling Suite“, wurde im Februar 2007 die Harry-Potter-Reihe mit dem siebten und letzten Band, Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, fertiggestellt. Knappe zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung von Harry Potter und der Stein der Weisen und nicht ganz zehn Jahre vor dem zwanzigjährigen Jubiläum der Romanreihe, das wir dieses Jahr feiern, schließt sich also in diesem prunkvollen Hotel ein Kreis, der in den Neunzigerjahren in einem kleinen Edinburgher Café noch wie eine krakelige, ziellose Linie aussah. Vom Cafétisch zur Edelsuite – eine beispielhaftere Verkörperung des Topos des sozialen Aufstiegs, vom Tellerwäscher zum Millionär, ist wohl schwer zu finden. 

Es ist hinlänglich bekannt, dass Städte, Orte, Landschaften häufig der Literatur, Kunst und Musik als Vorbild dienen. Dass aber eine einzige Stadt sowohl die lichten als auch die düsteren Momente der erfolgreichsten Buchserie aller Zeiten in sich vereint, ist zwar kein Geheimnis, aber dennoch selbst begeisterten Lesern oftmals nicht bewusst. Das Balmoral Hotel ist unsere letzte Station auf dieser Entdeckungstour des düsteren literarischen Hintergrundes der schottischen Hauptstadt. Während sich die Sonne noch einmal zeigt und die Fassade des Hotels, das Castle und die Mauern der Old Town in sattem Goldbraun erstrahlen lässt, wird uns trotz all der schauerlichen Legenden, mit denen wir uns während unseres Besuchs beschäftigt haben, bewusst, warum diese Stadt zurecht den Titel „Athen des Nordens“ trägt. Und dann sehen wir vor unserem geistigen Auge, wie eine nicht mehr ganz junge und keineswegs verzweifelte Autorin mit einem schnellen Blick aus dem Fenster, über die Stadt, in der sie ihre hoffnungslosesten wie auch triumphalsten Momente erlebte, die letzten Worte unter ihren Roman setzt, die letzten Worte einer Buchserie über einen Zauberlehrling, der eine ganze Generation das Lesen und den Glauben an eine magische Welt jenseits des Alltäglichen lehrte:

„Alles war gut.“


Quellen:

[1] „Harry Potter und Ich“, Dokumentation. Dir. Nicky Pattison. BBC/WDR/ARTE, 2001.

Diesen Essay schrieb ich im Zuge eines Stilistik-Seminars im Sommersemester 2017.

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