Als Lily einen Fantasyroman schreiben wollte


Lily zeichnen zu sehen ist ungewöhnlich. Gelegentlich skizziert sie die Personen, die zwischen ihren Ohren herumtanzen, aber die bestehen eigentlich immer aus Punkt, Punkt, Komma, Strich. Und dann wirft Lily den Bleistift auf den Tisch, verkündet, das Mangelhaft in Kunsterziehung sei schon gerechtfertigt gewesen, trinkt einen großen Schluck kalten Kaffee und verzieht das Gesicht.

Was Lily da aber zeichnet, sieht nicht nach Strichmännchen aus. Sie sitzt über ein großes Blatt Papier gebeugt und malt Ovale, Wellenlinien, Dreiecke und andere geometrische und nicht-geometrische Figuren neben- und übereinander. Ab und zu wischt sie mit einem Papiertuch über das Gemalte oder radiert einzelne Striche aus.

„Was malst du da?“, frage ich. Lily zuckt zusammen, dabei stehe ich schon seit geraumer Zeit hinter ihr im Halbdunkel des unaufgeräumten Zimmers, dessen Ecken das schwache Licht der Schreibtischlampe schon nicht mehr erreicht.

„Was machst du da?“ Lilys Gegenfrage ist eine nahezu einhundertprozentige Reproduktion meiner eigenen.
„Was malst du da?“, wiederhole ich. Lily hält zur Antwort ihre Zeichnung hoch.
„Und?“, frage ich, bevor ich noch „Kreise und Striche“ sage. 
„Das ist eine Karte“, erklärt Lily.


„Eine Karte?“, frage ich. „Wovon?“
„Von… einem Land“, antwortet Lily.
„Welchem Land?“, frage ich und versuche vergeblich, bekannte Formen, Umrisse oder einen prägnanten Fluss- oder Gebirgsverlauf zu erkennen.

„Einem Land, dessen Namen ich mir noch ausdenke“, erwidert Lily. 
„Warum denkst du dir ein Land aus?“ 
„Eine Handlung braucht Personen“, meint Lily und malt abwesend den Nagel ihres rechten Zeigefingers an. „Und Personen brauchen ein Land in dem sie leben. Und das erfinde ich gerade.“ 
„Du erfindest doch sonst auch nie Länder“, bemerke ich. „Warum lässt du deine nächste Geschichte nicht in Amerika spielen, oder in Deutschland, oder meinetwegen auf Sumatra…“ 
„Weil Amerika oder Deutschland oder Sumatra weder dem Umfang meines Werks, noch den Handlungsbegebenheiten gerecht käme“, erklärt Lily hochtrabend. 

„Ach so.“ Ich lasse mich auf den Schreibtischstuhl sinken. Wenn Lily am Schreibtisch sitzt, sitzt sie auf einem aufgeblasenen Gymnastikball. Türkisgrün, penetrant künstlich stinkend, aber laut Lily gut für die Wirbelsäule und für die Konzentration. Ihr Schreibtischstuhl ist gepolstert, ergonomisch geformt und hat bequeme Armlehnen, auf denen ich mich jetzt abstütze.

Lily hängt eine rote Haarsträhne vor der Brille, die sie hochpustet bevor sie erklärt: „Ich brauche ein Land mit abwechslungsreicher Landschaft, Bergen, sanften Hügellandschaften, Hochebenen, Sümpfen, außenherum Meer …“ 

„Schreibst du an einem fiktiven Wanderführer?“, frage ich, und meine die Frage durchaus ernst. Bei Lily ist die verrückteste Annahme gerade normal. Ihr Blick spricht jedoch Bände. 
„Das wird ein Fantasyroman“, erwidert sie knapp.
„Ein Herr der Ringe-Abklatsch“, vermute ich. „Ein Geniestreich“, kontert Lily.
„Ein Schreibtischschubladenhüter.“
„Ein, nein, der Bestseller des Jahres.“
„Nie fertig“, beende ich das Wortgefecht. Lily seufzt.

„Wahrscheinlich hast du Recht.“ Unglücklich starrt sie auf ihre Kritzeleien, die wohl sogar ihr selbst in diesem Moment nur wie Eier und Bananen vorkommen. 
„Hast du eigentlich schon eine Handlung im Kopf?“, frage ich, um Lily wieder zum Lächeln zu bringen, wie immer, wenn sie mir von unausgegorenen, aber in ihren Augen genialen Ideen erzählt. 
„Ne“, sagt Lily.“ 
„Charaktere?“ 
„Auch nicht.“ 
Ich schaue sie einen Moment lang schweigend an. „Überhaupt schon irgendetwas?“ 

„Die Karte.“ Lily deutet darauf. „Und genau da“, sie tippt mit dem Finger auf eine Stelle in der Mitte, neben ein paar kleinen Dächern, die sowohl eine Stadt als auch ein Gebirge darstellen könnten, mit viel Phantasie, „da fängt die Geschichte an.“ 
„Was ist da?“, frage ich. 
„Weiß ich doch noch nicht!“ Lily wird gereizt, ich merke es, lehne mich zurück in ihren bequemen Stuhl und sehe ihr eine Weile beim Zeichnen zu. 
„Ich sehe schon“, stelle ich irgendwann fest, „dieses Projekt frisst mehr Zeichen- als Schreibzeit.“ 
„Meinst du?“ Lily blickt von ihrer Arbeit auf. 
„Wenn du in dem Tempo weitermachst und man die Karte irgendwann erkennen soll, dann ja.“

Lily schaut mich an, mit diesem tieftraurigen Blick, den sie manchmal bekommt, wenn sie etwas erkennt, was für jeden ersichtlich war, nur nicht für eine Lily mit roten Haaren und ebenso wirren Gedanken. Dann löst sie langsam das Blatt aus dem großen Zeichenblock und reißt es vor meinen Augen entzwei. Und dann noch einmal. Und noch einmal. Und so oft, bis sie nur noch einen Haufen Schnipsel vor sich liegen hat, die einmal eine Karte von einem phantasierten Reich werden sollten.

„Du hast Recht“, sagt Lily. „Ich bin Schriftstellerin, keine verfluchte Malerin. Außerdem gibt es Wichtigeres in meinem phantastischen Reich, als geographische Begebenheiten. Völker mit eigenen Sprachen zum Beispiel. Ja, genau, eine völlig neue Sprache, die denke ich mir jetzt aus.“

Mit einer unwirschen Handbewegung entlässt sie mich aus dem Halbdunkel ihres kleinen Zimmers. Ich stehe auf und schließe leise die Tür hinter mir. Zeichnen kann sie nicht, die Lily, aber mit einer eigenen Sprache wird sie wohl keine Probleme haben, denke ich, immerhin verstehe ich oft genug nicht, was sie sagt.

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