Als Lily ein Drama schreiben wollte

Ein oberflächlicher Betrachter könnte glauben, dass Lily lernt, so tief hat sie den Kopf über ein dickes Buch gebeugt, doch an der Art wie sie die Lippen bewegt sehe ich, dass sie wieder einmal in irgendeiner Geschichte versunken ist.

"Lily.“ Ich klopfe mit der Hand auf das Buch. „Schläfst du?“

„Nein“, sagt Lily und zieht das Wort in die Länge. Na-hain.

„Aber du lernst auch nicht“, stelle ich fest, und Lily zuckt die Schultern, verneint diese Feststellung aber nicht. „Was machst du dann?“, frage ich.

„Ich schreibe“, sagt sie.

„Du hast keinen Stift und kein Papier“, erinnere ich sie.

„Wozu auch?“, fragt Lily. „Die ganz großen Dramen entstehen erst einmal im Kopf.“

 

Ich stöhne auf. „Ein Drama also?“

„Aber eines erster Güteklasse!“, bestätigt Lily. „Eine Familie, über der ein verhängnisvoller Fluch lastet, ein junger Held der tragisch stirbt, nachdem sich seine große Liebe mit seinem größten Widersacher verlobt, viel Haareraufen, und elendig lange Monologe.“

„Klingt gut“, nicke ich höflich.

„Absolut.“ Lily klappt ihre dicke Schwarte zu und schaut mit glänzenden Augen zu mir auf.

„Kommt auch ein Duell drin vor?“, frage ich, Interesse vortäuschend. Auf dem Tisch steht die Kaffeekanne, ich deute darauf und Lily nickt zustimmend. Ich hole mir eine Tasse und gieße mir Kaffee ein.

„Also, ein Duell?“, frage ich.

„Mit Degen“, bestätigt Lily.

„Hm“, überlege ich. „Sind Gefechte mit Degen nicht mehr oder weniger out?“

„Meinst du?“ Lily starrt mich kulleräugig an. „Aber ich will doch keine Schießszenen schreiben.“

Ich gebe vor, meine Fingernägel zu putzen. „Ich finde unsere Gefechte so viel interessanter, als wenn wir uns mit Degen bekriegen würden.“

Lilys Gesicht hellt sich auf. „Ach so, du meinst Wortgefechte?“

„Wow.“ Ich grinse sie an. „Du bist aber hellwach heute.“

„Ich bin ja wohl immer hellwach“, knurrt Lily.

„In anderen Sphären!“, gebe ich noch eins oben drauf.

„Sich ständig so unterirdisch aufzuführen wie du, ist aber auch nicht erstrebenswert“, kontert Lily.

„Touché“, gebe ich zu. Und frage: „Sag mal, soll in dem Gefecht auch jemand sterben?“

„Eigentlich nicht“, gibt Lily zu bedenken. „Ich kann ja schlecht den Protagonisten vor dem dramatischen Ende sterben lassen, und sein Widersacher muss erst noch mit Lady Loretta glücklich werden.“

„Lady Loretta?“

„Ist nur ein vorübergehender Name“, gibt Lily zu. „Namen sind ohnehin nur Schall und Rauch…“

„Vor allem wenn sich eine Figur nach der anderen in selbigen auflöst“, gebe ich ihr Recht. Lily hebt die Hand an die Stirn und deklamiert: „Oh Gott im Himmel, das Balg scheint mich schier zu zerreißen! Nimm mich in deine Hände bevor Satan es vermag!“ In einer gespielten Ohnmacht sinkt sie auf den Küchenboden. Ein paar Sekunden liegt sie regungslos, bevor sie zu kichern beginnt.

 

„Was war das denn?“

„Das“, erklärt Lily und rappelt sich von den Küchenfliesen hoch, „war der dramatische Tod der unglücklichen Geliebten des bereits durch eigene Hand verstorbenen Helden. Das Finale nach dem Finale. Lady Loretta stirbt bei der Geburt ihres Kindes. Das Kind überlebt, sieht aber Desmond…“

„Desmond?“

„Ja, dem Helden eben – der bekommt noch einen vernünftigen Namen! – erschreckend ähnlich, und tatsächlich wurde das Kind in der einzigen – und für Lady Loretta schrecklich verhängnisvollen Liebesnacht der unglücklichen Protagonisten gezeugt, bevor Lady Loretta sich für ihren späteren Ehemann Mr. Kite…“

„Mr. Kite?“

„Ja, Mr. Kite eben entscheidet.“

„Dramatisch“, bestätige ich. „Vor allem angesichts der Namensgebung.“

„Die bekommen doch noch andere Namen!“, verteidigt sich Lily vehement. „Aber sag mal, ist das nicht ein Drama erster Güteklasse?“

 

„Die reinste Tragödie“, bestätige ich. „Wie soll das Stück heißen?“

„Rühreier“, sagt Lily.

„Gerne“, nehme ich an. „Mit Zwiebeln?“

„Nein, Rühreier ist der Arbeitstitel.“

Ich schwanke zwischen Erstaunen und Enttäuschung über ein Abendessen, das mir jetzt wohl doch nicht vorgesetzt werden wird. „Rühreier?“ Das Erstaunen siegt. „Warum Rühreier?“

Lily schnieft. „Weil einem Werk dieses Arbeitstitels ein unfassbarer Erfolg schon vorbestimmt ist.“

„Ach so“, entgegne ich blöde. Lily sieht mich abschätzig an, gibt mir das Gefühl, wieder einmal gar nichts zu verstehen. Ich überspiele mein offensichtliches Unwissen mit einem großen Schluck Kaffee und den Worten: „Meinst du wirklich, Dramen sind heutzutage noch in?“

„Etwa nicht?“ Lily sieht maßlos enttäuscht aus. 

 

„Das eignet sich doch höchstens für Seifenopern und die ganz großen Bühnen, und das ist doch nicht das, was du willst“, versuche ich ihr behutsam zu erklären. Ich kenne Lily und weiß, dass sie auch wenn  sie ihr Drama jemals zu Ende schreiben sollte, unglücklich wäre mit dem Ergebnis. Erfolgsträchtiger Arbeitstitel hin oder her.

Schweigend steht Lily auf. Dann nimmt sie ihre leere Kaffeetasse in die Hand und wirft sie kraftvoll auf den Boden.

„Autsch“, sage ich.

„Die darfst du jetzt auffegen“, entgegnet Lily ruhig. „Dafür, dass du mich besser kennst, als ich mich selbst und du mir immer wieder alles so gut gemeint verdirbst!“ Und während ich reumütig auf die Knie sinke um die Scherben einzusammeln, verlässt Lily wie eine echte Dramaqueen die Küche, eine Melodie summend, die mir wage bekannt vorkommt. Mir will der Name nicht einfallen, doch ich glaube, es hat etwas mit Rührei zu tun. 

 

 

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