Als Lily einen historischen Roman schreiben wollte

Lily hat wieder etwas Neues im Sinn, das sehe ich ihr an, wie sie an dem Eingangsportal des Doms steht und auf mich wartet. Ich bin nicht ganz pünktlich und mein schlechtes Gewissen regt sich. Lily funkelt mich hinter ihren Brillengläsern an.
„Was lässt Er mich so lang ausharren an diesem verlassenen Orte?“, fragt sie mit hoher Stimme.

Schweigend betrachte ich die Heerscharen von Besuchern, die in den Eingangsbereich des Doms flüchten, teils aus kulturellem Interesse, teils wohl aus Flucht vor dem kalten Novemberwind und den gelegentlichen Regenschauern. „Sorry, Lily?“
Lily streckt die Nase in die Luft und wendet ihr Gesicht ab.
„Er ist ein Flegel!“
„Ist alles in Ordnung mit dir? Wer ist Er?“
„Eine Dame warten zu lassen… schäme Er sich!“
„Lily…“ Ich fasse sie an den Schultern und schüttele sie kurz durch. „Wer hat dein Sprachzentrum verknotet? Und warum zum Geier wolltest du mich hier treffen? Ja, ich war zu spät. Meine Güte, es tut mir leid.“

Lily seufzt, allerdings wieder auf ihre gereizte Lily-Art, und ich mache mich auf eine Standpauke gefasst. „Ich muss den Geist der Zeit in mich aufnehmen“, erklärt sie mit normaler Stimme.
„Welchen Geist welcher Zeit?“
„Den Geist der Vergangenheit. Ich muss mich einfühlen in die Menschen des Mittelalters.“
„Ach so“, entgegne ich lahm. „Und deswegen sprichst du, als hättest du nie Grammatik gelernt?“
„Nein, deswegen spreche ich… ach, egal.“ Lily schüttelt unwillig den Kopf. „Mir ist kalt, jetzt lass uns reingehen.“ Sie hopst mir voraus und verschwindet im Inneren der riesigen Kirche. Resignierend folge ich ihr.


„Also“, flüstere ich, als ich sie eingeholt habe, relativ unbeeindruckt von den hohen Gewölben, den Wandmalereien und dem ganzen anderen Tand. „Warum wolltest du hier herein? Du hast das doch auch schon zigmal gesehen.
„Wie gesagt“, raunt Lily zurück und kramt in den Taschen ihres Parkas nach irgendetwas, „der Mittelalterlichkeit wegen.“
„Warum auf einmal Mittelalter? Wir leben im dritten Jahrtausend!“
„Ich schreibe an einem historischen Roman! Ah, endlich.“ Lily zieht ein paar Münzen aus der Tasche, steckt sie in die Halsabschneiderdose am Kerzenpult und zündet ein Teelicht an. Der Kerzenschein spiegelt sich in ihren Augen und sie lächelt, doch irgendwie kann ich ihre Begeisterung für Wachslichter nicht teilen.
„Für wen ist das denn?“, frage ich.
„Für meine Muse“, entgegnet sie.
„Wieso, ist die verstorben? Mein Beileid.“
„Trottel“, sagt Lily. „Ich hoffe, so gibt sie sich ein wenig Mühe.“ Sie tappt in Richtung der Bänke, bahnt sich den Weg durch eine Gruppe Chinesen oder Koreaner mit Fotoapparaten und lässt sich in der letzten Reihe nieder. Ich setze mich neben sie und eine Zeitlang starren wir beide stur in Richtung Altarraum, der bei der Größe des Hauptschiffs kaum auszumachen ist.
„Also“, frage ich schließlich, „warum sind wir jetzt hier?“
Lily zuckt die Schultern. „Ich dachte“, erklärt sie, „es würde mir etwas bringen. Ein Ausflug in die Vergangenheit.“
„Worum geht’s denn in deinem Roman?“, frage ich vorsichtig. „Kommt da überhaupt eine Kirche drin vor?“
„Kirchen – oder zumindest die Kirche – kommen doch in allen historischen Romanen vor“, brummt Lily.
„Wenn du das sagst.“ Ich habe in meinem Leben noch keinen historischen Roman gelesen. Höchstens die Verfilmung angeschaut. „Zu welcher Zeit spielt denn dein Roman genau?“
Lily zieht die Schultern hoch, ich weiß nicht ob aus Ratlosigkeit, oder weil ihr kalt ist. „Weiß ich noch nicht so genau. Dafür müsste ich Ahnung von Geschichte haben.“
Ich blicke in einem Anflug von Hilflosigkeit Richtung Decke. „Aus welcher Zeit ist denn dieser Schuppen hier?“
„Keine Ahnung“, antwortet Lily. „Zwölfhundert herum oder so?“
„Schreib doch was aus der Zeit!“
„Da weiß ich doch nichts von, das war lange vor meiner Zeit!“

Ich lache so laut es das Ambiente erlaubt. „Und nochmal – was tun wir dann hier?“
„Stimmung aufnehmen.“ Lily klingt immer kläglicher. Irgendjemand beginnt, auf der Orgel zu spielen, und wir beide zucken unwillkürlich zusammen bei dem plötzlichen vollen Klang. „Da guck“, sagt Lily, jetzt schon lauter. „Der versteht mich. Der Orgeler.“
„Organist.“
„Ja, der auch.“
Sie schließt die Augen und hört eine Weile nur zu.  Ich ertappe mich, wie ich nach dem Handy in meiner Hosentasche wühle. „Das ist Bach“, sagt Lily.
„Wer?“
„Bach, Johann Sebastian. Der Komponist. 
„Ach, der.“ Die Information kann mir die Musik nicht schmackhafter machen. „Und wann hat der gelebt?“
„Ähm“, Lily kratzt sich an der geröteten Nase. „Siebzehnhundert herum, oder so.“
„Schreib doch was aus der Zeit. Über Bach.“
Lily verzieht das Gesicht. „Da weiß ich auch nichts von.“

„Ach so.“ Ich denke nach. „Aber Bach und seine Musik kennst du schon?“
Lily schaut mich an, als hätte ich behauptet, Weihnachten wäre im August. „Da muss ich mir ja schließlich nichts merken“, erklärt sie. „Das ist einfach.“
„Okay…“ Ich will Lily wirklich helfen, sie erscheint so enttäuscht von sich selbst. „Und was ist, wenn du diesen Bach in die heutige Zeit verpflanzt? Vielleicht per Zeitreise? Ein Zeitfenster in einer Orgel?“
„Aber“, bedenkt Lily, „ich will doch einen historischen Roman schreiben.“
„Ja – und?“
„Woher soll ich denn jetzt schon wissen, was mal irgendwann historisch sein wird?“

Ich gebe es auf. Lily neben mir denkt angestrengt nach, wie sie diese neue Hürde umschiffen könnte, und ich schließe nun die Augen, höre dem Organisten zu, wie er Bach spielt und überlege, ob der um Siebzehnhundert herum wohl wusste, dass er mal so historisch wertvoll sein würde, dass ein junges, rothaariges Mädchen ihn und seine Musik als Inspirationsquelle für eines ihrer unzähligen Luftschlösser nutzen würde.
Ich öffne die Augen und grinse Lily an. „Weißt du, ich glaube, du wirst auch Geschichte schreiben.“
„Geschichten?“, fragt Lily. „Tu ich doch schon.“
„Vergiss es.“ Ich stehe auf, werfe ein paar Münzen in die Halsabschneiderdose und zünde eine Kerze an. Damit Lily so bleibt.  


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