Als Lily eine Weihnachtsgeschichte schreiben wollte
In unserer Wohnung steht ein Weihnachtsbaum, der jeder Beschreibung spottet. Goldene und rote Kugeln lassen das Grün des bis unter die Wohnzimmerdecke reichenden Monstrums fast verschwinden, unzählige elektrische Kerzen drängen sich auf den Zweigen, jede mit einer roten Schleife geschmückt, und den restlichen Platz nimmt eine dicke, silberne Lamettaschlange ein. Lily steht vor dem Baum und betrachtet strahlend (ob aus innerer Freude oder doch nur im Glanz der Kerzen, vermag ich nicht genau zu sagen) ihr Werk.
„Was meinst du, Fred?“, fragt sie. „Soll noch eine von den kleinen Lichterketten dazu? Dann leuchten aus dem ganzen Baum heraus kleine Lichter, wie Feen im Unterholz.“
Ich lege den Kopf schief. „Ja, unbedingt“, sage ich. „Was der arme Baum braucht, ist noch mehr Glitzer.“
„Super!“, meint Lily, jegliche Ironie gekonnt ignorierend. „Dann mache ich gleich mal weiter. Holst du in der Zeit die Krippe?“
„Da soll auch noch eine Krippe drunter?“ Ich betrachte zweifelnd die unteren Zweige des Baumes, die sich unter ihrer Last gefährlich gen Boden biegen.
„Klar“, erwidert Lily. „Ohne Krippe kein Weihnachten. Und ohne Weihnachten keine Geschenke. Und vor allem kein Weihnachtsessen. Und glaub mir, das würdest du bereuen.“
„Was meinst du, Fred?“, fragt sie. „Soll noch eine von den kleinen Lichterketten dazu? Dann leuchten aus dem ganzen Baum heraus kleine Lichter, wie Feen im Unterholz.“
Ich lege den Kopf schief. „Ja, unbedingt“, sage ich. „Was der arme Baum braucht, ist noch mehr Glitzer.“
„Super!“, meint Lily, jegliche Ironie gekonnt ignorierend. „Dann mache ich gleich mal weiter. Holst du in der Zeit die Krippe?“
„Da soll auch noch eine Krippe drunter?“ Ich betrachte zweifelnd die unteren Zweige des Baumes, die sich unter ihrer Last gefährlich gen Boden biegen.
„Klar“, erwidert Lily. „Ohne Krippe kein Weihnachten. Und ohne Weihnachten keine Geschenke. Und vor allem kein Weihnachtsessen. Und glaub mir, das würdest du bereuen.“
Oh ja, das würde ich. Lily ist die beste Köchin, die ich kenne. Trotz ihres eigenen Protests gegen Fleischkonsum jeglicher Art, schafft sie es, mir regelmäßig wahre Gaumenfreuden zu kredenzen. „Ist ja deine Sache, ob du totes Tier essen willst, oder nicht“, pflegt sie stets zu sagen. „Aber du musst schon damit leben, dass ich dir dein Essen auftische, ohne es selbst abzuschmecken.“ Ich kann damit leben. Sehr gut sogar. Unser Heiligabendessen wird Forelle (für mich) und Gemüsefrikadellen (für Lily) zu Rosmarinkartoffeln und grünem Salat sein. Lily macht die beste Salatsoße der Welt, Joghurt und Senf mit einem Hauch Zitrone und Knoblauch. Und einer besonderen Zutat, die sie nicht herausrückt. Niemals. Lilys würde ihre Rezepte nicht einmal zu Weihnachten herausrücken.
„Fred?“, höre ich sie sagen. „Holst du jetzt bitte die Krippe?“
„Fred?“, höre ich sie sagen. „Holst du jetzt bitte die Krippe?“
„Hmm?“, mache ich. „Wo ist sie denn?“
„Keller“, instruiert Lily, die gerade eine Lichterkette zwischen das Lametta fummelt.
Als ich mit der großen Kiste, in der Lily ihre Weihnachtskrippe und die hässlichsten Krippenfiguren der Welt verstaut, wieder in die Wohnung komme, scheint sie die Lichterkette untergebracht zu haben. Aus dem Baum funkeln noch mehr Lichter als zuvor, und Lily sitzt, auf einen Notizblock starrend, auf dem Sofa. Ich stelle die Kiste vor dem Weihnachtsbaum ab und setze mich neben sie.
„Keller“, instruiert Lily, die gerade eine Lichterkette zwischen das Lametta fummelt.
Als ich mit der großen Kiste, in der Lily ihre Weihnachtskrippe und die hässlichsten Krippenfiguren der Welt verstaut, wieder in die Wohnung komme, scheint sie die Lichterkette untergebracht zu haben. Aus dem Baum funkeln noch mehr Lichter als zuvor, und Lily sitzt, auf einen Notizblock starrend, auf dem Sofa. Ich stelle die Kiste vor dem Weihnachtsbaum ab und setze mich neben sie.
„Wieder einmal ein unlösbares literarisches Problem?“
„Hmhm“, macht Lily.
„Kann ich helfen?“ Lily steht etwa alle zwei Wochen vor einem schrecklichen Problem, helfen kann ich ihr eigentlich nie und biete es auch selten an, aber offenbar hat mich ein gewisser weihnachtlicher Geist der Hilfsbereitschaft gepackt.
Lily schüttelt traurig den Kopf. „Mir kann nichts helfen“, sagt sie. „Außer einer Erleuchtung.“
Ich schiele zum Weihnachtsbaum. „Mir scheint aber“, sage ich, „als hättest du davon bereits mehr als genug bekommen. Funktioniert wohl nicht.“
Lily stößt einen abgrundtiefen Seufzer aus. „Dann ist das Fest ruiniert“, sagt sie.
„Weil das?“, frage ich, in Gedanken beim Essen, auf das sich ein generell ruiniertes Fest hoffentlich nicht auswirken würde. „Wir haben einen wundervollen Baum, jede Menge Lametta, und kleine Feen in der Edeltanne. Was willst du denn mehr?“
„Eine Weihnachtsgeschichte schreiben“, motzt Lily und rückt endlich mit der Sprache heraus. „Eine richtige, schöne Weihnachtsgeschichte.“
Ich ziehe meine Augenbrauen hoch. „Mit Jesus und so?“, frage ich. „Aber die hat sich schon mal jemand ausgedacht, das weißt du schon, oder?“
Lily lacht kurz auf. „Nein“, sagt sie. „Nicht die Weihnachtsgeschichte, nicht mit Jesus und so.“ Sie sieht zum Baum herüber. „Mehr so eine schöne Alltagsgeschichte, weißt du. Eine über Menschen an Weihnachten. Am Fest der Liebe. Mit einer Message drin. Dickens oder so.“
„Was oder wie?“
Lily schüttelt den Kopf, wie immer, wenn ich eine ihrer Anspielungen nicht verstehe. „Ist egal“, sagt sie. „Lass uns die Krippe aufbauen.“
Sie steht auf und beginnt, in der Kiste herumzukramen. Ich warte ergebenst, bis sie das kleine Holzhaus, eine Reihe kleiner Figürchen und eine Handvoll Stroh auf dem Boden ausgebreitet hat. „Welche möchtest du aufstellen?“, fragt sie.
„Bitte?“, gebe ich zurück. „Eigentlich gar keine, wenn du mich fragst.“
Lily runzelt die Stirn. „Ich wollte immer Ochs und Esel in den Stall stellen“, sagte sie. „Und die kleinen Schäfchen natürlich. Die restlichen Figuren hat dann meine Mutter übernommen.“ Sie dreht die graue Eselfigur in den Händen. „Irgendwie habe ich mich damals zu Menschen gar nicht hingezogen gefühlt.“
„Gott sei Dank hat sich das ja geändert.“
„Wie war es denn bei dir an Weihnachten?“
„Weiß ich nicht mehr so genau“, fange ich an, breche dann aber ab und denke nach. „Recht traditionell. Mein Bruder und ich wurden streng katholisch erzogen.“
„Habt ihr den Baum zusammen aufgebaut?“
Ich schüttele den Kopf. „Das hat mein Vater gemacht. Geschmückt hat ihn meine Mutter – wahrscheinlich die einzige Hausarbeit, der sie je nachgegangen ist – und entweder mein Bruder oder ich durften die Figuren in unsere Krippe stellen. Meistens mein Bruder.“
„Warum das?“
Ich zucke die Schultern. „Wir mussten jedes Jahr zu Weihnachten Gedichte auswendig lernen, die wir vor dem Krippenspiel am Nachmittag aufsagen sollten, um die Familie in weihnachtliche Stimmung zu versetzen. Der, der sein Gedicht besser vortrug, durfte die Krippe aufstellen.“
„Und das warst du ganz bestimmt nicht“, nickt Lily. „Schön zu wissen, dass du noch nie ein Faible für sowas hattest.“
„Es war nicht fair“, beschwere ich mich. „Sie hätten uns auch an irgendetwas anderem messen können, wenigstens ausnahmsweise. Oder einfach mal gar nicht, nur zu Weihnachten.“
„Hmhm“, macht Lily. „Magst du die Figuren in die Krippe stellen?“
Ich reibe mir die Nase. „Gut“, sage ich. „Wenn du mich so sehr darum bittest.“ Ich greife nach einem Schaf, doch schon breitet Lily ihre Hände über den Tierfiguren aus. „Die möchte ich!“, sagt sie und „Bitte“, fügt sie kleinlaut hinzu. „Es sind ja noch so viele Figuren da… Hier, schau, der Hirte und die Könige, und Maria, Josef und natürlich Jesus.“ Sie schiebt mir die Figuren zu. „Arbeitsteilung, ja?“
Ich grinse. „Wie immer.“ Geduldig warte ich, bis Lily ein wenig Stroh in dem Holzstall drapiert hat, und stelle dann vorsichtig die wackligen Figuren auf.
„Sag mal, Lily“, nehme ich wieder unseren ursprünglichen Gesprächsfaden auf, während Lily liebevoll die kleinen Tierfiguren anordnet. „Warum willst du unbedingt eine Weihnachtsgeschichte schreiben? Und dann an Heiligabend. Bis du damit fertig bist, wird schon Silvester sein.“
Lily krabbelt unter dem Baum hervor und setzt sich mir gegenüber auf ihre Hacken. „Weißt du“, sagt sie zögernd, „ich liebe Weihnachtsgeschichten. Unspektakuläre Geschichten, die einen an das Gute glauben lassen, und an die Möglichkeit, sich selbst zu verändern. So eine Geschichte wollte ich schreiben und dir heute Abend bei der Bescherung vorlesen.“
„Um mir vor Augen zu führen, dass es an der Zeit ist, dass ich mich ändere?“
„Quatsch“, sagt Lily. „Oder vielleicht. Jein. Ich möchte eigentlich eine Geschichte schreiben, die dir Weihnachten ein bisschen näher bringt.“
Ich räuspere mich. „Du musst nicht versuchen, mir Weihnachten nahe zu bringen. Es reicht, dass du den ganzen Zauber hier in der Wohnung veranstaltest.“ Ich deute auf unseren überladenen Baum. „Es reicht, dass du mir etwas schenkst, und ich dir etwas schenke, und wir bei einem Glas Wein etwas Leckeres zu Abend essen. Wie viel Weihnachten muss denn noch sein?“
„Eben“, beharrt Lily. „Die Geschichte und die weihnachtliche Stimmung sollten mein Geschenk an dich sein. Ein Geschenk, keine Sorge, aber ein viel persönlicheres, als der ganze gekaufte Kram. Und jetzt fällt mir nichts dazu ein, und das ist so frustrierend.“ Sie verzieht das Gesicht zu dem Lily-typischen Ausdruck, der darauf hindeutet, dass sie sich nur mit allergrößter Mühe die Tränen verkneifen kann.
„Beruhige dich doch.“ Unbeholfen nehme ich sie in den Arm und klopfe auf ihren Rücken. „Ich freue mich auch über den obligatorischen Terminkalender und die Aftershave-Geschenkbox. Das sind sehr nützliche Geschenke.“
„Eben drum!“, jault Lily. „Ich wollte dir nicht immer nur etwas Nützliches schenken, ich wollte dir eine Freude machen, mit einer Weihnachtsgeschichte, die genau auf dich und unser Weihnachtsfest abgestimmt ist.“
„Dann“, sage ich langsam, „schreib doch eine Geschichte über eine junge Studentin, die eine Weihnachtsgeschichte für ihren literarisch völlig gleichgültigen Mitbewohner schreibt.“
Lily schnieft und schüttelt den Kopf. „Das will doch keiner lesen“, erklärt sie trotzig. „Eine richtige Weihnachtsgeschichte muss ein armes aber gutherziges Kind beinhalten, das mindestens ein Elternteil verloren hat und seitdem auf der Suche nach fehlender elterlicher Liebe ist, einen alten Griesgram, der auf seine letzten Tage noch vom Geist der Weihnacht ergriffen wird, oder ein scheues Liebespaar, die sich nicht trauen, zueinanderzufinden, aber an Weihnachten endlich den Mut finden, sich ihre Liebe zu gestehen, oder…“
„Ich denke, ich hab’s verstanden“, erkläre ich. „Aber Lily, ich verlange doch gar keine Weihnachtsgeschichte von dir. Ich freue mich einfach darüber, dass wir zusammen einen schönen Abend verbringen.“ Ich schaue ihr in die Augen. „Wirklich. Allerdings beginne ich langsam, zu verhungern, und das heißt, es bleibt mir nicht mehr viel Zeit, mich über deine Anwesenheit zu freuen.“
Lily schnieft und lacht zugleich. „Mit anderen Worten“, erklärt sie, „ich sollte schleunigst in die Küche verschwinden. Ja, vielleicht hast du Recht. Wie konnte ich so blöd sein und glauben, du wärest empfänglich für eine Weihnachtsgeschichte.“
„Oh“, erwidere ich. „Ich bin schon empfänglich für Weihnachtsgeschichten. Allerdings glaube ich“, ich zögere kurz und versuche meine Gedanken in Worte zu fassen, „dass für jeden Menschen Weihnachten etwas anderes bedeutet. Für dich sind es diese ganzen Lichter, und Harmonie, sich Gedanken machen. Für mich bedeutet es nicht mehr als ein gutes Weihnachtsessen in netter Runde. Und besonders die nette Runde werde ich heute genießen können. Gutes Essen gab es nämlich im Gegensatz zu guter Laune bei mir daheim immer.“
Lily lächelt.
„Und dann“, rede ich weiter, „würde ich sagen, betrinken wir uns ganz fürchterlich, spielen ein paar deiner grässlichen Gesellschaftsspiele und erzählen uns so lange Unsinn, bis dir die Ideen aus den Ohren sprudeln, einverstanden?“
Jetzt lacht Lily. „Okay“, sagt sie, „dieses Jahr verschone ich dich mit meinen literarischen Ergüssen. Aber jetzt zeig mir ein bisschen weihnachtliche Hilfsbereitschaft und hilf mir in der Küche!“ Sie springt auf und läuft in ihren flauschigen Socken in die Küche. Ich folge ihr etwas langsamer. Sie wartet schon am Herd auf mich und hält mir mit diabolischem Grinsen eine ihrer Küchenschürzen entgegen. Die weihnachtliche, mit den fetten Weihnachtsmännern und Rentieren drauf. „Wenn schon, denn schon“, sagt sie.
Aus dem Radio klingt ein englisches Weihnachtslied. Draußen ist es dunkel und wir kochen weitestgehend schweigend nebeneinander her, nur unterbrochen von Lilys kurzen Anweisungen. Irgendwann ist die Forelle im Ofen und der Rest in Pfannen und Töpfen verteilt, und wir setzen uns einen Moment an den Küchentisch. Lilys Gesicht glüht, und mit ihrem roten Pullover und den langen roten Haaren sieht sie aus, als stünde sie in Flammen.
„Warm, oder?“, sagt sie. Ich öffne eine Flasche Weißwein und gieße uns zwei großzügige Gläser ein. Sie klingen hell, als wir anstoßen.
„Auf dich, deine Kochkünste und den wunderbar kitschigen Weihnachtsbaum“, sage ich.
„Auf Weihnachten“, sagt Lily.
„Bist du noch deprimiert wegen deiner Geschichte?“
„Nicht mehr“, sagt Lily. „Also, vielleicht bin ich deprimiert wegen der Geschichte, aber man kann doch nicht lange deprimiert sein, wenn man eigentlich rundum glücklich ist, oder?“
„Und das bist du?“
„Ja“, sagt Lily. „Das bin ich wirklich. Und weißt du, jetzt fällt mir auch eine schöne Weihnachtsgeschichte ein.“
„Erzähl“, sage ich, nehme einen Schluck Wein und lehne mich zurück.
„Also“, beginnt Lily. „Da gab es einmal dieses junge, rothaarige Mädchen, das unbedingt eine Weihnachtsgeschichte schreiben wollte. Doch ihr unsensibler Mitbewohner, der sein Herz seit jeher gegen jede Geschichte und jedes Gedicht verschloss…“
Ich lehne mich zurück und höre Lily entspannt zu. Die monotonen Geräusche des Ofens, die leisen weihnachtlichen Lieder aus dem Radio und Lilys sanfte Stimme formen eine heimelige Geräuschkulisse, und ich merke, wie mich wirklich eine Weihnachtsstimmung ergreift.
„…und so öffnete er sein Herz, legte das Jesuskind in die Krippe und die Forelle ins Backrohr“, schließt Lily ihre Erzählung. „Und sie betranken sich und feierten Weihnachten, glücklich bis in alle Ewigkeit. Und das war die schönste Weihnachtsgeschichte, die mir wirklich passiert ist.“ Sie nimmt einen großen Schluck Wein und sieht mich erwartungsvoll an.
„Ja“, sage ich, seltsam berührt. „Was für eine schöne Weihnachtsgeschichte.“
„Du hattest Recht“, erklärt Lily. „Die schönsten Weihnachtsgeschichten werden nicht erzählt, sie passieren einfach.“ Sie hebt ihr Glas. „Frohe Weihnachten, Fred.“
Ich stoße mit ihr an und lächle ihr zu.
„Frohe Weihnachten, Lily.“
„Hmhm“, macht Lily.
„Kann ich helfen?“ Lily steht etwa alle zwei Wochen vor einem schrecklichen Problem, helfen kann ich ihr eigentlich nie und biete es auch selten an, aber offenbar hat mich ein gewisser weihnachtlicher Geist der Hilfsbereitschaft gepackt.
Lily schüttelt traurig den Kopf. „Mir kann nichts helfen“, sagt sie. „Außer einer Erleuchtung.“
Ich schiele zum Weihnachtsbaum. „Mir scheint aber“, sage ich, „als hättest du davon bereits mehr als genug bekommen. Funktioniert wohl nicht.“
Lily stößt einen abgrundtiefen Seufzer aus. „Dann ist das Fest ruiniert“, sagt sie.
„Weil das?“, frage ich, in Gedanken beim Essen, auf das sich ein generell ruiniertes Fest hoffentlich nicht auswirken würde. „Wir haben einen wundervollen Baum, jede Menge Lametta, und kleine Feen in der Edeltanne. Was willst du denn mehr?“
„Eine Weihnachtsgeschichte schreiben“, motzt Lily und rückt endlich mit der Sprache heraus. „Eine richtige, schöne Weihnachtsgeschichte.“
Ich ziehe meine Augenbrauen hoch. „Mit Jesus und so?“, frage ich. „Aber die hat sich schon mal jemand ausgedacht, das weißt du schon, oder?“
Lily lacht kurz auf. „Nein“, sagt sie. „Nicht die Weihnachtsgeschichte, nicht mit Jesus und so.“ Sie sieht zum Baum herüber. „Mehr so eine schöne Alltagsgeschichte, weißt du. Eine über Menschen an Weihnachten. Am Fest der Liebe. Mit einer Message drin. Dickens oder so.“
„Was oder wie?“
Lily schüttelt den Kopf, wie immer, wenn ich eine ihrer Anspielungen nicht verstehe. „Ist egal“, sagt sie. „Lass uns die Krippe aufbauen.“
Sie steht auf und beginnt, in der Kiste herumzukramen. Ich warte ergebenst, bis sie das kleine Holzhaus, eine Reihe kleiner Figürchen und eine Handvoll Stroh auf dem Boden ausgebreitet hat. „Welche möchtest du aufstellen?“, fragt sie.
„Bitte?“, gebe ich zurück. „Eigentlich gar keine, wenn du mich fragst.“
Lily runzelt die Stirn. „Ich wollte immer Ochs und Esel in den Stall stellen“, sagte sie. „Und die kleinen Schäfchen natürlich. Die restlichen Figuren hat dann meine Mutter übernommen.“ Sie dreht die graue Eselfigur in den Händen. „Irgendwie habe ich mich damals zu Menschen gar nicht hingezogen gefühlt.“
„Gott sei Dank hat sich das ja geändert.“
„Wie war es denn bei dir an Weihnachten?“
„Weiß ich nicht mehr so genau“, fange ich an, breche dann aber ab und denke nach. „Recht traditionell. Mein Bruder und ich wurden streng katholisch erzogen.“
„Habt ihr den Baum zusammen aufgebaut?“
Ich schüttele den Kopf. „Das hat mein Vater gemacht. Geschmückt hat ihn meine Mutter – wahrscheinlich die einzige Hausarbeit, der sie je nachgegangen ist – und entweder mein Bruder oder ich durften die Figuren in unsere Krippe stellen. Meistens mein Bruder.“
„Warum das?“
Ich zucke die Schultern. „Wir mussten jedes Jahr zu Weihnachten Gedichte auswendig lernen, die wir vor dem Krippenspiel am Nachmittag aufsagen sollten, um die Familie in weihnachtliche Stimmung zu versetzen. Der, der sein Gedicht besser vortrug, durfte die Krippe aufstellen.“
„Und das warst du ganz bestimmt nicht“, nickt Lily. „Schön zu wissen, dass du noch nie ein Faible für sowas hattest.“
„Es war nicht fair“, beschwere ich mich. „Sie hätten uns auch an irgendetwas anderem messen können, wenigstens ausnahmsweise. Oder einfach mal gar nicht, nur zu Weihnachten.“
„Hmhm“, macht Lily. „Magst du die Figuren in die Krippe stellen?“
Ich reibe mir die Nase. „Gut“, sage ich. „Wenn du mich so sehr darum bittest.“ Ich greife nach einem Schaf, doch schon breitet Lily ihre Hände über den Tierfiguren aus. „Die möchte ich!“, sagt sie und „Bitte“, fügt sie kleinlaut hinzu. „Es sind ja noch so viele Figuren da… Hier, schau, der Hirte und die Könige, und Maria, Josef und natürlich Jesus.“ Sie schiebt mir die Figuren zu. „Arbeitsteilung, ja?“
Ich grinse. „Wie immer.“ Geduldig warte ich, bis Lily ein wenig Stroh in dem Holzstall drapiert hat, und stelle dann vorsichtig die wackligen Figuren auf.
„Sag mal, Lily“, nehme ich wieder unseren ursprünglichen Gesprächsfaden auf, während Lily liebevoll die kleinen Tierfiguren anordnet. „Warum willst du unbedingt eine Weihnachtsgeschichte schreiben? Und dann an Heiligabend. Bis du damit fertig bist, wird schon Silvester sein.“
Lily krabbelt unter dem Baum hervor und setzt sich mir gegenüber auf ihre Hacken. „Weißt du“, sagt sie zögernd, „ich liebe Weihnachtsgeschichten. Unspektakuläre Geschichten, die einen an das Gute glauben lassen, und an die Möglichkeit, sich selbst zu verändern. So eine Geschichte wollte ich schreiben und dir heute Abend bei der Bescherung vorlesen.“
„Um mir vor Augen zu führen, dass es an der Zeit ist, dass ich mich ändere?“
„Quatsch“, sagt Lily. „Oder vielleicht. Jein. Ich möchte eigentlich eine Geschichte schreiben, die dir Weihnachten ein bisschen näher bringt.“
Ich räuspere mich. „Du musst nicht versuchen, mir Weihnachten nahe zu bringen. Es reicht, dass du den ganzen Zauber hier in der Wohnung veranstaltest.“ Ich deute auf unseren überladenen Baum. „Es reicht, dass du mir etwas schenkst, und ich dir etwas schenke, und wir bei einem Glas Wein etwas Leckeres zu Abend essen. Wie viel Weihnachten muss denn noch sein?“
„Eben“, beharrt Lily. „Die Geschichte und die weihnachtliche Stimmung sollten mein Geschenk an dich sein. Ein Geschenk, keine Sorge, aber ein viel persönlicheres, als der ganze gekaufte Kram. Und jetzt fällt mir nichts dazu ein, und das ist so frustrierend.“ Sie verzieht das Gesicht zu dem Lily-typischen Ausdruck, der darauf hindeutet, dass sie sich nur mit allergrößter Mühe die Tränen verkneifen kann.
„Beruhige dich doch.“ Unbeholfen nehme ich sie in den Arm und klopfe auf ihren Rücken. „Ich freue mich auch über den obligatorischen Terminkalender und die Aftershave-Geschenkbox. Das sind sehr nützliche Geschenke.“
„Eben drum!“, jault Lily. „Ich wollte dir nicht immer nur etwas Nützliches schenken, ich wollte dir eine Freude machen, mit einer Weihnachtsgeschichte, die genau auf dich und unser Weihnachtsfest abgestimmt ist.“
„Dann“, sage ich langsam, „schreib doch eine Geschichte über eine junge Studentin, die eine Weihnachtsgeschichte für ihren literarisch völlig gleichgültigen Mitbewohner schreibt.“
Lily schnieft und schüttelt den Kopf. „Das will doch keiner lesen“, erklärt sie trotzig. „Eine richtige Weihnachtsgeschichte muss ein armes aber gutherziges Kind beinhalten, das mindestens ein Elternteil verloren hat und seitdem auf der Suche nach fehlender elterlicher Liebe ist, einen alten Griesgram, der auf seine letzten Tage noch vom Geist der Weihnacht ergriffen wird, oder ein scheues Liebespaar, die sich nicht trauen, zueinanderzufinden, aber an Weihnachten endlich den Mut finden, sich ihre Liebe zu gestehen, oder…“
„Ich denke, ich hab’s verstanden“, erkläre ich. „Aber Lily, ich verlange doch gar keine Weihnachtsgeschichte von dir. Ich freue mich einfach darüber, dass wir zusammen einen schönen Abend verbringen.“ Ich schaue ihr in die Augen. „Wirklich. Allerdings beginne ich langsam, zu verhungern, und das heißt, es bleibt mir nicht mehr viel Zeit, mich über deine Anwesenheit zu freuen.“
Lily schnieft und lacht zugleich. „Mit anderen Worten“, erklärt sie, „ich sollte schleunigst in die Küche verschwinden. Ja, vielleicht hast du Recht. Wie konnte ich so blöd sein und glauben, du wärest empfänglich für eine Weihnachtsgeschichte.“
„Oh“, erwidere ich. „Ich bin schon empfänglich für Weihnachtsgeschichten. Allerdings glaube ich“, ich zögere kurz und versuche meine Gedanken in Worte zu fassen, „dass für jeden Menschen Weihnachten etwas anderes bedeutet. Für dich sind es diese ganzen Lichter, und Harmonie, sich Gedanken machen. Für mich bedeutet es nicht mehr als ein gutes Weihnachtsessen in netter Runde. Und besonders die nette Runde werde ich heute genießen können. Gutes Essen gab es nämlich im Gegensatz zu guter Laune bei mir daheim immer.“
Lily lächelt.
„Und dann“, rede ich weiter, „würde ich sagen, betrinken wir uns ganz fürchterlich, spielen ein paar deiner grässlichen Gesellschaftsspiele und erzählen uns so lange Unsinn, bis dir die Ideen aus den Ohren sprudeln, einverstanden?“
Jetzt lacht Lily. „Okay“, sagt sie, „dieses Jahr verschone ich dich mit meinen literarischen Ergüssen. Aber jetzt zeig mir ein bisschen weihnachtliche Hilfsbereitschaft und hilf mir in der Küche!“ Sie springt auf und läuft in ihren flauschigen Socken in die Küche. Ich folge ihr etwas langsamer. Sie wartet schon am Herd auf mich und hält mir mit diabolischem Grinsen eine ihrer Küchenschürzen entgegen. Die weihnachtliche, mit den fetten Weihnachtsmännern und Rentieren drauf. „Wenn schon, denn schon“, sagt sie.
Aus dem Radio klingt ein englisches Weihnachtslied. Draußen ist es dunkel und wir kochen weitestgehend schweigend nebeneinander her, nur unterbrochen von Lilys kurzen Anweisungen. Irgendwann ist die Forelle im Ofen und der Rest in Pfannen und Töpfen verteilt, und wir setzen uns einen Moment an den Küchentisch. Lilys Gesicht glüht, und mit ihrem roten Pullover und den langen roten Haaren sieht sie aus, als stünde sie in Flammen.
„Warm, oder?“, sagt sie. Ich öffne eine Flasche Weißwein und gieße uns zwei großzügige Gläser ein. Sie klingen hell, als wir anstoßen.
„Auf dich, deine Kochkünste und den wunderbar kitschigen Weihnachtsbaum“, sage ich.
„Auf Weihnachten“, sagt Lily.
„Bist du noch deprimiert wegen deiner Geschichte?“
„Nicht mehr“, sagt Lily. „Also, vielleicht bin ich deprimiert wegen der Geschichte, aber man kann doch nicht lange deprimiert sein, wenn man eigentlich rundum glücklich ist, oder?“
„Und das bist du?“
„Ja“, sagt Lily. „Das bin ich wirklich. Und weißt du, jetzt fällt mir auch eine schöne Weihnachtsgeschichte ein.“
„Erzähl“, sage ich, nehme einen Schluck Wein und lehne mich zurück.
„Also“, beginnt Lily. „Da gab es einmal dieses junge, rothaarige Mädchen, das unbedingt eine Weihnachtsgeschichte schreiben wollte. Doch ihr unsensibler Mitbewohner, der sein Herz seit jeher gegen jede Geschichte und jedes Gedicht verschloss…“
Ich lehne mich zurück und höre Lily entspannt zu. Die monotonen Geräusche des Ofens, die leisen weihnachtlichen Lieder aus dem Radio und Lilys sanfte Stimme formen eine heimelige Geräuschkulisse, und ich merke, wie mich wirklich eine Weihnachtsstimmung ergreift.
„…und so öffnete er sein Herz, legte das Jesuskind in die Krippe und die Forelle ins Backrohr“, schließt Lily ihre Erzählung. „Und sie betranken sich und feierten Weihnachten, glücklich bis in alle Ewigkeit. Und das war die schönste Weihnachtsgeschichte, die mir wirklich passiert ist.“ Sie nimmt einen großen Schluck Wein und sieht mich erwartungsvoll an.
„Ja“, sage ich, seltsam berührt. „Was für eine schöne Weihnachtsgeschichte.“
„Du hattest Recht“, erklärt Lily. „Die schönsten Weihnachtsgeschichten werden nicht erzählt, sie passieren einfach.“ Sie hebt ihr Glas. „Frohe Weihnachten, Fred.“
Ich stoße mit ihr an und lächle ihr zu.
„Frohe Weihnachten, Lily.“
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